Michael Wendenburg Online Redaktion

prostep ivip Symposium 2019: Zuversichtlich in die digitale Zukunft

Die konjunkturellen Aussichten für die deutsche Wirtschaft, insbesondere die Automobilindustrie und den Maschinen- und Anlagenbau, haben sich aufgrund der internationalen Handelsstreitigkeiten eingetrübt. Auf dem prostep ivip Symposium im ICS in Stuttgart war davon allerdings wenig zu verspüren. Ähnlich gut besucht wie im letzten Jahr, vermittelte das Familientreffen der PLM-Branche den Eindruck, dass die Unternehmen den digitalen roten Faden gefunden haben und sich daran zielstrebig durch das Labyrinth der Digitalisierung hangeln, um für den nächsten Aufschwung gewappnet zu sein. Model-based Systems Engineering (MBSE), Digital Twin und Künstliche Intelligenz waren die hot topics der diesjährigen Agenda.

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Insgesamt besuchten 680 Teilnehmer von 191 Unternehmen und 25 Forschungsinstituten das Symposium, wie Vorstandsmitglied Philipp Wibbing zur Begrüßung sagte. Knapp 15 der Besucher kamen aus dem Ausland. Zu den jüngsten Vereinsmitgliedern gehört Flugzeugbauer Boeing, der erstmals eine Keynote hielt. Keine leichte Aufgabe für Russ Benson, VP IT Product Systems, der sein tiefes Bedauern über den Verlust der vielen Menschenleben bei den beiden Flugzeugabstürzen ausdrückte. Benson erläuterte Boeings Digital Transformation Journey, für die ein universelles, standardbasiertes Informationsmodell eine wesentliche Grundlage ist. Das Unternehmen setze jetzt vollständig auf model based bis hin zur Modellierung der Fabriken, sagte Benson. Die Standardisierungsaktivitäten auf dem Gebiet des MBSE sind ein wesentlicher Grund dafür, dass Boeing dem Verein beigetreten ist.

Aras und Schaeffler als Sponsoren
Das Symposium wurde in diesem Jahr von PLM-Hersteller Aras und von Automobil- und Industriezulieferer Schaeffler gesponsert, der mit einem Leiterwagen angefangen hat und heute Lösungen für die Mobilität von Morgen entwickelt. Ein nettes Zitat von Dirk Spindler, Leiter F&E Prozesse, Methoden und Tools bei Schaeffler, ist mir im Gedächtnis haften geblieben: Das Internet der Dinge braucht Dinge, die vernetzt werden können. Die darf man nicht vernachlässigen. Diese Dinge effizient herzustellen, ist nämlich die Stärke der deutschen Wirtschaft. Sonst wären wir nicht die globalen Exportchampions, die US-Präsident Donald Trump ein solcher Dorn im Auge sind, dass er die negativen Folgen seiner Zollpolitik für die eigene Wirtschaft nicht sieht.

Spindler sagte in seiner Keynote, dass der Erfolg der Vergangenheit die Herausforderung für die Änderung der Zukunft sei, zumal diese Zukunft im Falle der Mobilität noch unklar sei. Man müsse sich deshalb agil an sie herantasten und könne sich nicht mehr alleine gestalten, sondern müsse noch mehr kollaborieren. Dazu seien Standards erforderlich, die es z.B. für MBSE erst in Ansätzen gebe: Die Frage ist, ob man mit der Standardisierung anfängt oder einfach mal anfängt.

Legacy-Systeme bekommt man laut Spindler nicht mehr weg, sondern muss die Informationen über ein Cockpit integrieren, das im Falle Schaefflers von Aras kommt. Genau das beklagte paradoxerweise Peter Schroer, CEO des PLM-Herstellers, in seiner Keynote. Der Unterhalt der Legacy-Systeme verschlinge 80 Prozent der IT-Kosten, so dass zu wenig Geld für die Lösung der Zukunftsprobleme zur Verfügung stehe. Schlimmer noch: Es würden immer noch Einwegsysteme gekauft, die die technische Erblast vergrößern. Meine größte Sorge ist, dass die technische Erblast die Unternehmenskultur abtötet. Junge Ingenieure brauchen bessere Tools, die ihnen Spaß machen. Schroer empfahl als Alternative eine widerstandsfähige IT-Architektur auf Basis einer flexiblen Plattform, die es ermöglicht, sowohl die Hardware-Infrastruktur, als auch die Applikationen bei Bedarf auszutauschen.

Spindler

acatech-Präsident Streibich adelt den Verein
Eines der Highlights des Symposiums war, neben der unterhaltsamen Abendveranstaltung mit artistischen Einlagen, die Keynote von Karl-Heinz Streibich. Der Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) adelte den prostep ivip Verein als Vorreiter einer Trusted Networked Partnership: Eines Vertrauensnetzwerks aus Anwenderunternehmen, IT-Vendoren und Vertretern der Wissenschaft und Forschung, die gemeinsam einen Standard für PLM geschaffen hätten, der wesentlichen Anteil am Erfolg des globalen Exportchampions Deutschland habe. Solche Vertrauensnetzwerke seien die Chance, um aus Deutschland heraus die nächste Generation globaler digitaler Champions zu schaffen, sagte Streibich.

In vertrauensvollen Partnerschaften sollten die Unternehmen digitale Plattformen als neue Betriebssysteme für ganze Branchen schaffen, und das schnell und weltweit, meinte Streibich. Nur so könne die deutsche und europäische Industrie im B2B-Geschäft die zweite Halbzeit der Digitalisierung gewinnen, weil es leichter sei, Plattformen aufzubauen, als industrielle Kompetenz nachzubilden. Amazon & Co. würden allerdings begünstigt durch weniger Datenregulierung, was ihnen auch die Nutzung der Künstlichen Intelligenz (KI) erleichtere, räumte Streibich ein. Um diesen Nachteil auszugleichen, regte er die Einrichtung von vorwettbewerblichen, gemeinsam genutzten Open Data Spaces in Europa an. Da musste ich dann doch ein wenig den Kopf schütteln: Schon zu entscheiden, ob Daten vorwettbewerblich sind, dürfte bei der Kleinstaaterei in Europa Jahrzehnte dauern, abgesehen davon, dass kaum jemand Daten ohne kommerziellen Hintergedanken sammeln dürfte.

Smarte Produkte auf dem Vormarsch
Das Symposium stand in diesem Jahr unter dem Motto Collaboration in the Age of Smart Products und Services. Eigentlich ein Pleonasmus, denn internetbasierte Dienste sind ein wesentlicher Bestandteil smarter Produkte. Jedenfalls nach dem Verständnis des Fraunhofer IPK, das zusammen PLM-Hersteller CONTACT Software und VDI eine umfangreiche Studie über Smart Industrial Products erstellt hat, die auf dem Symposium präsentiert wurde. Die gute Nachricht ist, dass 87 Prozent der befragten Unternehmen in Deutschland bereits smarte Produkte anbieten oder dabei sind, sie zu entwickeln. Die schlechte, dass sich nur wenige über neue Geschäftsmodelle Gedanken machen. Die meisten wollen zunächst ihr Portfolio durch neue Services ergänzen oder erweitern, aber das muss ja kein schlechter Anfang sein.

Apropos neue Geschäftsmodelle: Dr. Walter Koch von Schaeffler und Prof. Dr. Jens Göbel von der TU Kaiserslautern stellten auf dem Symposium drei Anwendungsfälle für verfügbarkeitsorientierte Geschäftsmodelle und Produkt-Service-Systeme vor, die im Rahmen des vom BMBF geförderten Verbundprojekts InnoServePro konzipiert wurden. Auch ein Beispiel für den Nutzen von Vertrauensnetzwerke, wie Koch sagte, denn keiner hätte die Lösungen alleine entwickeln können.

Zwei der Anwendungsfälle stammten übrigens aus dem Bereich der Agrartechnik, die zu den Vorreitern bei der digitalen Transformation gehört. Im Falle von John Deere ging es darum, die Servicetechniker durch visuellen Anleitungen auf Basis des Digital Twins besser zu unterstützen. Noch interessanter fand ich das Beispiel des Kartoffel-Vollernters von Grimme, der während der Ernte nach Möglichkeit nicht ausfallen sollte und vor allem nicht mitten auf dem Acker. Durch Ausstattung der Maschine mit einem neuartigen Sensor, der den Zustand des Förderbandes überwacht und mit den Lebensdauerdaten abgleicht, lassen sich Ausfälle dieser kritischen Komponente präziser vorhersagen, Ersatzteil direkt bestellen und die Einsätze der Servicetechniker besser planen.

Grafik_SmarteProdukte

Innovationen aus der Engineering Crowd
Wenn von Plattform-Ökonomie und -Ökosystemen die Rede ist, dann geht es meist um Anwendungen für Industrie 4.0 oder neue, datengetriebene Services. Im Engineering ist der Plattform-Gedanke noch nicht wirklich angekommen, ungeachtet der Tatsache, dass praktisch alle PLM-Hersteller ihre Lösungen heute als Innovations-Plattformen verkaufen. Umso spannender fand ich den Vortrag von Joachim Lentes und Michael Hertwig vom Fraunhofer IAO über das Crowd Engineering als Ansatz zur Verbesserung der Produktinnovation. Worum es letztlich geht ist, externe Kompetenzen und Ressourcen über eine Online-Plattform in den kreativen Prozess einzubinden bzw. Teile der Entwicklung an die Community zu vergeben. Was bei Open Source Software heute schon Gang und Gäbe ist, ließe sich nach Ansicht der Referenten auch auf andere Entwicklungsbereiche übertragen.

Ich frage mich allerdings, welche Auswirkungen es für den Lebensstandard des deutschen Ingenieurs haben wird, wenn Unternehmen anfangen weltweit Ressourcen anzuzapfen, die allenfalls im Erfolgsfall honoriert werden. Unklar ist neben den Bezahlmodellen auch, wem die Daten beim Crowd Engineering gehören und wie das geistige Eigentum in dieser Open Innovation Community geschützt werden kann. Trotzdem finde ich den Ansatz interessant, denn er ermöglicht u.a. eine frühzeitigere Einbindung von Kunden/Konsumenten in den Innovationsprozess.

Die digitale Zukunft ist modellbasiert
Mit mehr als 40 Keynotes und parallel laufende Vorträgen sowie zwei Workshops bot das Symposium genug Stoff für einen Fortsetzungsroman über die digitale Zukunft. Ich war nach den zwei Tagen Informationsaufnahme regelrecht erschlagen. Peter Schroer zeigte sich im Interview begeistert über den Stellenwert des Themas MBSE auf der Agenda, das wirklich allgegenwärtig war. In fast allen Unternehmensvorträgen, aber auch in vielen Vorträgen der Arbeitsgruppen des Vereins ging es um die Implementierung modellbasierter Methoden. Eine der großen Herausforderungen ist und bleibt die verteilte Systementwicklung, für die neue oder erweiterte Standards erforderlich sind. Die Smart SE-Arbeitsgruppe des Vereins wird sich künftig verstärkt über die domänenübergreifende Simulation von Verhaltensmodellen Gedanken machen.

Den vorläufigen Schlusspunkt setzte Chief Digital Engineer Nico Michels von Agrartechnik-Hersteller CLAAS, dem Industriesponsor des nächsten prostep ivip Symposiums. In seiner abschließenden Keynote erläuterte er, welche smarten Produktsysteme und Software-Lösungen in der Landwirtschaft heute zu Einsatz kommen: Der Traktor weiß z.B. dank des digitalen Zwillings des Feldes, wo welcher Ertrag steht und kann den Dünger entsprechend dosieren. Solche Hightech-Lösungen zu entwickeln, erfordere neue Fähigkeiten im Engineering, sagte Michels. CLAAS nutzt die 3DEXPERIENCE-Plattform von Dassault und das RFLP-Modell als Basis für die Implementierung des MBSE, das bereits in Piloten verwendet wird. Mehr dazu auf dem nächsten Symposium, das am 12. und 13. Mai 2020 wieder im ICS in Stuttgart stattfindet.

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