Michael Wendenburg Online Redaktion

Hilft die Cloud dem PLM-Markt aus der Corona-Krise?

Der Lock-Down in der Corona-Krise hat die Digitalisierung der Kommunikationsprozesse in Unternehmen, aber auch in Ämtern und Behörden, Schulen und im Privatleben beschleunigt. Es ist erstaunlich, was in Deutschland trotz der im vergleichsweise unterentwickelten Netzinfrastruktur alles möglich ist. Ohne dass wir uns dessen immer bewusst sind, nutzen wir für die Kommunikation und Kollaboration Cloud-basierte Plattformen. Die Frage ist, ob das notgedrungen auch in sensiblen Bereichen wie der Produktentwicklung zu einer stärkeren Akzeptanz Cloud-basierter Anwendungen führen wird. Verhilft das das Corona-Virus PLM aus der Cloud endlich zum Durchbruch?

Blog_Cloud_Corona

Die durch das Corona-Virus ausgelöste Rezession wird den PLM-Markt auf Jahre negativ beeinflussen, wie die Marktanalysten von CIMdata kürzlich in einem Webinar konstatierten. Allerdings äußerten sie die Hoffnung, dass die Pandemie zu einer stärkeren Akzeptanz und Nutzung Cloud-basierter PLM-Anwendungen führen könnte, weil sie den Menschen ermögliche, jederzeit von überall aus zu arbeiten. So sehr ich die Expertise von CIMdata schätze, habe ich da so meine Zweifel. Oder um es mit Goethes Faust zu sagen: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.

Vielleicht liegt es daran, dass ich die Botschaft vom unmittelbar bevorstehenden Durchbruch von Cloud-PLM schon zu oft gehört habe. CIMdata selbst veröffentlichte Ende 2017 eine umfassende Studie zum Stand von PLM in der Cloud, der zufolge ein Großteil der Befragten binnen der nächsten zwei Jahre den Weg in die Wolke einschlagen wollte. Eigentlich müssten sie längst angekommen sein, denn das schnelle Deployment ist ja angeblich einer der großen Vorteile Cloud-basierter Anwendungen. Zumindest in Deutschland ist davon jedoch noch nicht viel zu spüren, und auch weltweit ist Cloud-PLM in den letzten zwei Jahren nicht sehr weit vorangekommen, wie CIMdata Vice President Stan Przybylinski in der Fragerunde im Anschluss an das Webinar über die Folgen der Corona-Krise für den PLM-Markt einräumte.

Adoption to date has been slow. In some respects, it has been a chicken and egg problem. Overall, the leading on-premise data and process management solution providers have been slow to market with cloud offerings. Many mostly sell managed services, hosting their on-premise versions on public cloud infrastructure. There are some cloud-native providers like Arena PLM and Propel PLM, and recent entrants like OpenBOM, that are enabling some of the use cases that the on-premise solutions have long supported. As I said during the session, the COVID-19 crisis might encourage industrial firms to take a more serious look.

Wenn sich die Unternehmen das aktuelle Cloud-Angebot der führenden PLM-Hersteller ernsthaft anschauen, werden sie allerdings feststellen, dass die meisten Lösungen nicht wirklich geeignet sind, um schnell von den Vorteilen der Cloud zu profitieren. Es fehlt an ausgereiften Angeboten, an überzeugenden Migrationspfaden und letztlich sind auch die Kostenvorteile wenig transparent. Selbst beim Umzug einer bestehenden On-Premise-Installation in eine private Cloud, die dann vom PLM-Hersteller gemanagt wird (so wie es z.B. das SaaS-Modell von PTC vorsieht), sind monatelange Vorbereitungen mit einem Team von mehreren Partnern erforderlich. Sie dürften in den Zeiten von Corona noch schwieriger zu koordinieren sein.

Bei den meisten Cloud-Angeboten handelt es sich um Single-Tenant-Instanzen, die als gehostete Lösung praktisch den gleichen Anpassungs- und Integrationsaufwand erfordern wie eine On-Premise-Installation. Implementierung und Rollout mögen einfacher sein, wollen aber gut vorbereitet sein. Es sei nicht damit getan, ein paar Lizenzen zu kaufen und loszulegen, sagte Przybylisnki auf die Frage, wie sich die Cloud-Transformation auf die Rolle der Systemintegratoren auswirken werde:

Standing up an instance of a data and process management solution will be easier with cloud provisioning. But there is still a lot of work in getting that system ready to work for the company that some people ignore in a world where consumerization of IT is commonplace. Many think that you buy some licenses and are ready to go. That is not the case. Security models still have to be defined and populated with users. Business processes must be captured and “taught” to the system. Organizational change management and communications are still essential to support adoption. The bottom line is that services will always be needed, but their composition will change.

Eine der Hürden beim Cloud-Deployment von PLM-Anwendungen ist ihre Integration in die bestehende IT-Systemlandschaft und speziell die ERP-Integration, unabhängig davon ob ERP on premise oder in der Cloud läuft. Das gilt vor allem für mehrmandantenfähige PLM-Lösungen (Multi Tenant), die aus Sicherheitsgründen oft nur einen eingeschränkten Zugriff auf die PLM-Daten erlauben. Ich kenne zumindest einen Fall, in dem ein Cloud-PLM-Projekt an dieser Klippe zu scheitern droht. Nach Ansicht meines Blogger-Kollegen Oleg Shilovitsky, mit dem ich im letzten Jahr mal über das Thema diskutierte, hängt das damit zusammen, dass die meisten Cloud-PLM-Lösungen nicht nativ für die Cloud entwickelt wurden. Hier seine Antwort auf meinen Kommentar:
The limitation in cloud integrations is usually happening with old enterprise software hosted on the cloud. While vendors are happy to report that the system is “cloud ready”, in fact just by placing the same 15-20 years old data management system on AWS won’t make it cloud. Old “integrations” usually using old fashion APIs or access SQL data directly by bypassing API calls. For these systems, SaaS and integration is usually a contradiction in terms. Native web and cloud applications are built with open web API in mind, using web infrastructure and can be easily integrated.

Ähnlich sieht das Marc Lind, Senior Vice President Strategy bei PLM-Hersteller Aras, mit dem ich vor ein paar Monaten über das Thema sprach. PLM habe zwar deutlich mehr Berührungspunkte zu Autorensystemen und anderen Unternehmensanwendungen als z.B. CRM (Customer Relationship Management), was den Weg in die Cloud komplizierter mache. Das eigentliche Problem sei jedoch, dass viele Cloud-PLM-Anbieter nur eingeschränkte Integrationsmöglichkeiten bieten würden, weil Kernelemente ihrer Sicherheits-Architekturen noch vor dem Internet-Zeitalter entwickelt worden seien.

Momentmal_Pixabay_Wolke

Das Thema Sicherheit ist für viele Unternehmen immer noch eine psychologische Barriere, wenngleich sie nicht mehr so hoch ist wie noch vor einigen Jahren. Zwar haben die Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Cloud-Infrastruktur abgenommen; es bleiben aber Fragen wie die Verfügbarkeit der PLM-Lösungen in dieser Infrastruktur und der freie Zugang zu den Daten z.B. bei einem Wechsel des Cloud-Providers, die juristisch wasserdichte Vereinbarungen erfordern. All das lässt sich nicht aus dem Stand bewältigen.

Der Weg in die Wolke erfordert die Unterstützung Cloud-erfahrener Experten, die weder bei den PLM-Herstellern und ihren Systemintegratoren in Massen zu finden sind und deren Dienste Geld kosten. Insofern relativieren sich die Vorteile der schnellen Produktivsetzung und der geringeren Anfangsinvestitionen. Gerade Unternehmen mit einer bestehenden und gut funktionierenden PLM-Installation müssen sich sehr genau überlegen, ob und unter welchen Bedingungen sich der Aufwand für sie lohnt. Nicht gerade ideale Voraussetzungen, um in Krisenzeiten eine PLM-Installation in die Cloud umzuziehen, aber es kann sicher sinnvoll sein, die Krise zu nutzen, um über den Umzug nachzudenken.

Für kleinere mittelständische Unternehmen, die vielfach noch gar kein PDM/PLM-System einsetzen, wäre die Cloud dagegen durchaus einen Versuch wert. Und ihre Zahl ist nach Überzeugung viele Marktbeobachter weitaus größer als die der PDM/PLM-Anwender. Leider wird genau dieses Kundensegment mit den aktuellen Cloud-PLM-Angeboten nicht gut adressiert. Die Lizenzmodelle sind immer noch User- und nicht pay-per-use basiert, sie sind bei fluktuierender Anwenderzahl nicht so atmungsaktiv wie die Cloud-Befürworter gerne behaupten und die Kosten pro Nutzer sind in vielen Fällen für kleinere Kunden deutlich höher als für Großunternehmen. Selbst Autodesk Fusion Lifecycle ist mit einem Preis von knapp 1.000 US-Dollar pro Voll-User und Jahr kein Schnäppchen, wenn man sich vor Augen hält, dass man eine Lizenz der Cloud-basierten Autorensysteme (Fusion 360) für etwas mehr als die Hälfte bekommt.

Deshalb glaube ich nicht, dass die Cloud einen nennenswerten Beitrag zur Wiederbelebung des PLM-Markts leisten wird. Aber ich würde mich freuen, wenn ich mich irrte. Und ich würde mir wünschen, dass die PLM-Hersteller ihre Cloud-Angebote auch lizenztechnisch weiterentwickeln, um kleinere Unternehmen endlich mit PLM zu „infizieren“. Dann könnten auch sie mit einem gestärkten Immunsystem aus der Corona-Krise hervorgehen.

Weitere Beiträge auf wendenburg.net Seite 1

12.05.2020
Vor längerer Zeit habe ich mal einen Blog-Beitrag darüber geschrieben, warum viele PLM-Migrationen scheitern. Das Thema scheint viele Unternehmen zu beschäftigen, wie ich aus dem Umstand schlussfolgere, dass er nach wie vor zu den meistgelesenen Beiträgen zählt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle... Artikel weiterlesen
04.05.2020
Der Lock-Down in der Corona-Krise hat die Digitalisierung der Kommunikationsprozesse in Unternehmen, aber auch in Ämtern und Behörden, Schulen und im Privatleben beschleunigt. Es ist erstaunlich, was in Deutschland trotz der im vergleichsweise unterentwickelten Netzinfrastruktur alles möglich ist.... Artikel weiterlesen
23.04.2020
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona- bzw. COVID-19-Pandemie werden den globalen PLM-Markt härter und vor allem längerfristiger treffen als ursprünglich erwartet. Das sagte CIMdata Vice President Stan Przyzybilinsky vor ein paar Tagen in einem Webinar. Mitte März waren die Marktanalysten... Artikel weiterlesen
16.11.2019
Digitale Transformation ganz pragmatisch überschriebt mein Blogger-Kollege Ralf Steck seinen Bericht über die ACE Europe 2019. Ich kann ihm da nur zustimmen. Aras schafft das Kunststück, eine klare Vision für die digitale Zukunft und die Weiterentwicklung seiner PLM-Plattform Aras Innovator zu entwickeln,... Artikel weiterlesen
25.10.2019
Die Zukunftstrends bei PLM und Smart Systems Engineering aufzugreifen und die Sicht der Forschung einzubringen, ist das Ziel der PLM-Tagung, die seit elf Jahren vom Lehrstuhl für Virtuelle Produktentwicklung (VPE) der TU Kaiserslautern veranstaltet wird. Im Unterschied zum Lehrstuhl, der in diesem Jahr... Artikel weiterlesen
26.09.2019
Eine ehrliche Auseinandersetzung mit PLM versprach Prof. Vahid Salehi von der Hochschule für Angewandt Wissenschaften München bei der Eröffnung des diesjährigen Munich PLM Symposiums. Ganz konnte die Veranstaltung, die vor zwei Wochen an der Hochschule stattfand, diesem Anspruch nicht gerecht werden.... Artikel weiterlesen
10.07.2019
Digitalisierung ist ein Dauerthema. Wie schon das letzte Treffen der CONTACT Community vor zwei Jahren stand auch die diesjährige Open World wieder ganz im Zeichen der digitalen Transformation. Der PLM- und IoT-Hersteller unterstrich seine Innovationskraft mit einer Fülle von Neuheiten und Erweiterungen... Artikel weiterlesen
19.06.2019
Leider hatte ich nicht die Möglichkeit, die diesjährige PTC LiveWorx in Boston zu besuchen. Eine gute Zusammenfassung der wichtigsten Keynotes finden Sie auf Engineering.com. Mit mehr als 6.500 Teilnehmern war die Veranstaltung vollständig ausgebucht. Ob sich der Besuch für sie gelohnt hat, ist schwer... Artikel weiterlesen