Interessante Anwendervorträge
Neben Zukunftsthemen wie KI und Blockchain bot die diesjährige Tagung eine Reihe von interessanten Unternehmensvorträgen über ehrgeizige PLM- und MBSE- (Model Based Systems Engineering) bzw. Systems Lifecycle Management-Initiativen in der Industrie, die vor allem eines deutlich machten: Ungeachtet der Nutzung agiler Methoden bei der Umsetzung bleiben solche Initiativen Langläufer, die immer Gefahr laufen, von der Unternehmensentwicklung überholt zu werden. Dies umso mehr, als der Umbau der Organisation in vielen Fällen notwendige Begleiterscheinung, wenn nicht sogar Voraussetzung für das Gelingen der Initiative ist.
Olaf Kramer und Dr. Thomas Schwarzkopf von der Robert Bosch GmbH stellten den Teilnehmern den holistischen PLM- und MBSE-Ansatz vor, mit dem der Automobilzulieferer die Komplexität der domänenübergreifenden Entwicklung meistern will. Die OEMs sourcen zunehmend Komplettsysteme an Bosch, die z.B. Funktionen für das Beschleunigen, Bremsen und Lenken beinhalten, woraus sich neue Anforderungen der domänenübergreifenden Interaktion ergeben. Das Anforderungsmanagement auf Systemebene und die Verknüpfung von System- und Komponenten-Anforderungen sind einige der Herausforderungen, die Bosch mit dem holistischen Ansatz adressiert. Ziel ist die Schaffung eines MBSE-Datenkerns, der die heterogene Tool-Landschaft verbinden und als einzige Quelle der Wahrheit dienen soll. Integrationsfähigkeit und Offenheit seien deshalb künftig wichtiger als Best-in-Lösungen, meinten die Referenten. Was wohl die Anwender bei Bosch dazu sagen werden?
Vor ähnlichen Herausforderungen wie Bosch steht auch der Hersteller von Lenksystemen ThyssenKrupp Presta. Er möchte Mechanik-, Elektrik/Elektronik- und Software-Entwicklung an den unterschiedlichen Standorten mit Hilfe eines durchgängigen Engineering-Backbones und eines domänenübergreifenden System Lifecycle Managements enger verbinden. Dr. András Balogh von tkPresta Hungary, wo die E/E- und Software-Entwicklung angesiedelt sind, erläuterte den Teilnehmern die Herausforderungen der Initiative, die im ersten Schritt darin bestehen, das bestehende PDM-System durch eine zukunftsfähige PLM-Lösung zu ersetzen. Bei der Umgestaltung der Unternehmens-Architektur nutzt das Unternehmen die Dienste des PLM-Beratungs- und -Softwarehauses PROSTEP. Dr. Martin Strietzel erläuterte den Teilnehmern die Vorteile des capability-basierten Beratungsansatzes, der den Brückenschlag zur Unternehmensstrategie erleichtert.
Während Automobil- und Zulieferindustrie mit den Dämonen der domänenübergreifenden Integration ringt, muss Fresenius Medical Care dafür erst einmal die Grundlagen schaffen. Organisation, Prozesse und IT-Systeme an den verschiedenen Entwicklungsstandorten sind sehr heterogen, da der Medizintechnikhersteller stark durch Firmenübernahmen gewachsen ist. Oliver Paul und Dr. Michael Bitzer skizzierten die Roadmap zur Schaffung einer global einheitlichen PLM- und ALM-Landschaft (Application Lifecycle Management). Im ersten Schritt soll der papierbasierte Dokumentationsprozess, der aufgrund der strengen Auflagen in der Medizintechnik sehr aufwendig ist, stärker digitalisiert werden. Um jederzeit zu wissen, welche Produktkonfiguration in welchem Land angemeldet ist, brauche das Unternehmen außerdem ein leistungsfähiges Konfigurationsmanagement, sagten die Referenten.
Digitale Wertschöpfung für wen?
Hauptsponsor der diesjährigen Tagung war die NTT Data Deutschland GmbH, deren CTO Oliver Köth den Teilnehmern in seiner Keynote die Fähigkeiten erläuterte, die man für die Entwicklung smarter Produkte benötigt. Dazu gehören unter anderem ein stärker an den Bedürfnissen und dem Verhalten der Kunden orientiertes Produktdesign und neue Wege der Mensch-Maschine Interaktion über Spracheingabe, aber auch neue Systemarchitekturen, in denen die Software alles steuert und sicher aktualisiert werden kann, um neue Funktionen einzuspielen. Die digitale Wertschöpfung werde über Unternehmens- und Industriegrenzen hinweg geschehen, sagte Köth. Er illustrierte das am Beispiel eines smarten Türschlosses, das übers Handy entsperrt werden kann und bei der Vermietung von Appartements über Airbnb die lästige Schlüsselübergabe erspart. Eine smarte Lösung für ein Luxusproblem, während die Menschen in vielen Städten mit dem Wohnungsmangel zu kämpfen haben, der zwar nicht durch Airbnb verursacht wurde, aber dadurch zweifellos noch verschärft wird.
In seiner Funktion als Vorsitzender der Forschungsvereinigung Smart Engineering e.V. stellte Dr. Marcus Krastel von der :em engineering methods AG auf der VPE-Tagung die Schwerpunkte der Forschungsvorhaben vor, die die Vereinigung gerne zusammen mit Partnern aus der Industrie anschieben würde. Allein, es fehlen ihr noch die mittelständischen Mitglieder, die sich an solchen Vorhaben beteiligen möchten. Krastel lud alle Interessenten zum nächsten Thementag am 12. November 2019 in Darmstadt ein, der sich mit der Digitalisierung im Mittelstand und den Auswirkungen auf die Arbeitswelt von Morgen beschäftigen wird. Ein wichtiges Thema, wie ich finde, denn der Mensch steht bei der ganzen Digitalisierungsdebatte noch viel zu oft im Hintergrund.