Michael Wendenburg Online Redaktion

Passt die Übernahme von Mentor noch in die Zeit?

Der Kauf von Mentor Graphics durch Siemens Industry Software passe wie die berühmte Faust aufs Auge zur Siemens-Vision eines durchgängigen, digitalen Backbones von der Produktentwicklung bis an die Maschine, schreibt mein geschätzter Blogger-Kollege Ralf Steck im Engineering Spot. Ich bin mit ihm, wie so oft, absolut einer Meinung, aber diesmal in etwas anderem Sinne. Wie die Faust aufs Auge passen kann laut Duden nämlich auch das genaue Gegenteil bedeuten: Dass etwas gar nicht passt.

Elefantenhochzeit

Ich will damit nicht behaupten, dass Mentor Graphics nicht zu Siemens und der Digitalisierungsstrategie des Unternehmens passen würde. Mit einem Umsatzvolumen von 3,3 Milliarden Dollar ist der EDA-Anbieter (Electronic Design Automation) größer als jeder PLM-Hersteller, das PLM-Geschäft von Siemens eingeschlossen, was im übrigen deutlich macht, wie dramatisch sich die Gewichtung zwischen Mechanik- und Elektronik-Entwicklung in den letzten Jahren verschoben hat. Es besteht also nicht unbedingt die Gefahr, dass Mentor im großen Siemens-(Bauch)Laden untergeht.

Was ich sagen will ist, dass der Kauf von Mentor wie die vielen anderen Käufe, die die großen PLM-Hersteller in letzter Zeit getätigt haben, eigentlich nicht mehr in die Zeit passen. Die Vision einer allumfassenden Lösung für die Digitalisierung der Produktentwicklung aus der Hand eines Herstellers war schon vor der Erfindung des Internet of Things (IoT) eine Fata Morgana. In einer Zeit, in der alle PLM-Experten, zumindest die die ich kenne, der Meinung sind, dass monolithische PLM-Lösungen keine Zukunft mehr haben und dass die “Elefanten” in Scheiben geschnitten werden müssen, mutet es anachronistisch an, dass PLM-Hersteller immer noch eierlegende Wollmilchelefantenkühe aufzuziehen versuchen. Aber ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen – noch ist ja gar nicht klar wie Siemens welche Werkzeuge von Mentor in sein riesiges Produktportfolio integrieren wird.

“Mir ist das seit langem unverständlich, wie man einerseits über smarte Produkte und Industrie 4.0 sprechen kann und gleichzeitig mindestens einen der drei Bestandteile Mechanik, Elektronik und Software ausblenden oder externen Firmen überlassen kann”, schreibt Ralf in seinem Blog-Beitrag. Ich finde etwas anderes viel unverständlicher, nämlich wie wenig sich die PLM-Hersteller in den letzten Jahren darum bemüht haben, die seit langem vorhandenen Werkzeuge von Mentor & Co. sauber in ihre PLM-Lösungen zu integrieren und den Prozess der Mechatronik-Entwicklung durchgängig zu unterstützen. Dadurch sind IT-technisch Parallelwelten entstanden, die sich nicht einfach dadurch wieder vereinigen lassen, dass man jetzt die Firmen aufkauft, die dafür die Lösungen anbieten.

Im Vergleich zu unserer vertrauten Mechanik-Welt ist die Bandbreite an Autoren-Werkzeugen für die Elektronik- und Software-Entwicklung viel zu groß und zu vielschichtig, als dass ein Anbieter für jede Aufgabe das beste Werkzeug anbieten könnte. Und da sind die vielen Simulationsaufgaben und neue Themen wie das Model Based Systems Engineering (MBSE) noch gar nicht berücksichtigt. Aber selbst wenn ein Hersteller es schaffen sollte, würden viele Kunden das gar nicht wollen, weil ihnen die Abhängigkeit von einem Anbieter zu groß wäre, und die Komplexität der Systemadministration wahrscheinlich auch.

Der Trend im PLM-Markt geht eindeutig in Richtung modularer mehrschichtiger Software-Architekturen mit der Möglichkeit, Daten in PLM-Backbones, TDM-Systemen (Team Data Management) und Autoren-Werkzeugen so zu verlinken, dass allen Anwender die relevanten Informationen für ihre Arbeit auf Knopfdruck zur Verfügung stehen. Voraussetzung dafür ist eine Offenheit, die viele monolithische PLM-Lösungen immer noch vermissen lassen.

Das ist gewissermaßen die Kundensicht. Aus Sicht von Siemens ist die Übernahme von Mentor zweifellos ein Meilenstein bei der digitalen Transformation zum weichen Riesen. Ob von Erfolg gekrönt, wird die Zukunft zeigen. Wenn ich in 25 Jahren PLM-Geschichte eines gelernt habe, dann dass eins und eins bei Firmenhochzeiten nicht immer zwei ergibt. Es greift nämlich das Gesetz des humorvollen, britischen Soziologen Parkinson, dass mit wachsender Komplexität einer Organisation der bürokratische Aufwand zu- und die Effizienz abnimmt. Und Siemens war noch nie für unbürokratisches Handeln bekannt.

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