Die Entwicklung cybertronischer, d.h. smart vernetzbarer Produkte und Produktionssysteme mit viel Software und Elektronik erfordert neue Werkzeuge und Methoden der modellbasierten Systementwicklung, die da interdisziplinäres Arbeiten besser unterstützen als die domänenspezifischen Werkzeuge. Diesen Satz schreibe ich nicht zum ersten Mal, und Sie haben ihn sicher auch schon öfter gelesen. Ergänzen möchte ich ihn heute darum, dass ein neues Denken in den Unternehmen und Mitarbeiter mit neuen Fähigkeiten mindestens ebenso wichtig sind.
Vor ein paar Wochen habe ich einen sehr renommierten, deutschen Hausgerätehersteller besucht, der gerade den zweiten Anlauf unternimmt, Systems Engineering (SE) bzw. Model Based Systems Engineering (MBSE) konzernweit einzuführen, um die Komplexität der cybertronischen Produktentwicklung besser beherrschbar zu machen. Der erste Anlauf an der Hand eines namhaften PLM-Herstellers wurde bewusst gestoppt, um in der Organisation erst mal ein gemeinsames Verständnis für SE und die Prozessanforderungen zu entwickeln. Eine weise Entscheidung, weil es mit der Einführung von ein paar neuen Software-Tools nicht getan ist.
Hier sind einige der Schlussfolgerungen, die mein Gesprächspartner mit mir geteilt hat bzw. die ich aus unserem Gespräch gezogen habe:
1. Ohne SE bzw. MBSE werden Unternehmen die wachsende Komplexität der cybertronischen Produktentwicklung auf Dauer nicht mehr beherrschen. Aber ohne PLM-Unterstützung werden sie die Werkzeuge und Methoden der modellbasierten Systementwicklung nicht effizient in ihre Produktentwicklungsprozesse integrieren können.
2. Bei vielen Unternehmen sind in der Elektronik- und Software-Entwicklung schon lange entsprechende Werkzeuge und Methoden im Einsatz. Deshalb ist es unerlässlich, erst einmal den Istzustand und die SE-Anforderungen der Anwender zu erfassen, bevor man ihnen neue Prozesse, Methoden und Werkzeuge überstülpt.
3. . Bei der Implementierung sollte man sich nicht nur auf die Expertise seines PLM-Herstellers verlassen, sondern nach Möglichkeit neutrale Berater mit entsprechendem SE-Know-how einschalten. Dies umso mehr, als kein Hersteller alle erforderlichen Tools aus einer Hand anbieten kann. Offenheit ist deshalb eine wesentliche Anforderung an das einzusetzende PLM-Backbone.
4. Wichtiger als die Wahl der Werkzeuge und Methoden ist die Frage, wie sie in den, oder besser in die bestehenden Entwicklungsprozesse integriert werden sollen. Ein modular aufgebauter, interdisziplinärer Prozess bietet die beste Gewähr dafür, dass MBSE jeweils mit dem Funktionsumfang genutzt werden kann, den die Komplexität der zu entwickelnden Systeme erfordert.
5. Die Schaffung eines durchgängigen, PLM-integrierten Anforderungsmanagements ist notwendige Voraussetzung für MBSE. Solange Anforderungen dokumentenbasiert verwaltet werden, ist es unmöglich, sie mit Funktionen und anderen SE-Artefakten zu verknüpfen, um z.B. ihren Erfüllungsgrad zu kontrollieren oder die Auswirkungen von Änderungen nachvollziehbar zu machen.
6. Die größte Hürde bei der SE-Implementierung ist der Mind Change in der Organisation. Widerstände sind nicht so sehr von den Ingenieuren zu erwarten, sondern eher von den Führungskräften im mittleren Management, die den Mehraufwand für das Frontloading scheuen. Das Denken in Kostenstellen ist mit der SE-Implementierung schwer vereinbar.
7. SE und MBSE erfordern Mitarbeiter mit neuen Fähigkeiten, die es gewohnt sind, in Systemen zu denken. Es reicht jedoch nicht aus, junge Ingenieure einzustellen, die dieses Denken von den Hochschulen mitbringen. Man muss auch geeignete Mitarbeiter im eigenen Haus qualifizieren, denn sie kennen die zu entwickelnden Produkte und Systeme am besten.
Die Implementierung von SE ist ein langwieriger Prozess, der vielleicht nicht im ersten Anlauf gelingt. Je früher Unternehmen damit beginnen, Erfahrungen mit den entsprechenden Werkzeugen und Methoden zu sammeln und sie in seine Prozesse zu integrieren, desto besser wird es für die Zukunft der Produktentwicklung im Zeitalter von Industrie 4.0 und Internet of Things gerüstet sein.