Michael Wendenburg Online Redaktion

Ist PLM zu komplex? Eine Antwort auf Oleg Shilovitsky

Mein Blogger-Kollege Oleg Shilovitsky hat neulich die These aufgestellt, dass die Komplexität PLM den Garaus macht und nach Lösungen gesucht. Anlass war der interessante Beitrag von Jos Voskuil über die PI PLMx in London, den ich hiermit zur Lektüre empfehle. Der herstellerunabhängigen PLM-Veranstaltung, die im Jahr zuvor in Hamburg stattfand (siehe Bericht), gingen trotz einer interessanten Agenda auf dem Weg nach London offensichtlich Besucher verloren. Das könnte man mit Unsicherheit über den Ausgang des Brexits erklären, der gerade die Unternehmen in Großbritannien intensiv beschäftigen dürfte, aber Jos hatte andere Hypothesen parat.

Komplexität

Jos führte den Besucherrückgang unter anderem auf die zunehmende Verschwommenheit des PLM-Begriffs und die Tatsache zurück, dass die digitale Transformation alle Aufmerksamkeit und alle Budgets auf sich ziehe. Das würde bedeuten, dass es nicht gelungen ist, den Unternehmensleitern zu vermitteln, dass PLM die Voraussetzung für die digitale Transformation ist. Der Digital Twin mag sexier sein als PLM, aber ohne PLM bleibt er gewissermaßen ein digitaler Zombie; er braucht die digitale Nabelschnur zur Produktentstehung. Meiner Einschätzung nach sind sich die meisten Unternehmen dieser Tatsache aber durchaus bewusst.

Oleg meinte deshalb, dass Jos einen wesentlichen Punkt übersehe: PLM stuck in complications and a continues going down the rathole of wasting resources on complex solutions and explanation why complex is actually a good thing. Richtig ist, dass sich viele PLM-Verantwortliche darüber Gedanken machen, wie sie PLM einfacher an den Mann oder die Frau bringen. Es geht aber nicht darum, die PLM-Lösungen einfacher zu machen, sondern ihre Komplexität an der Benutzeroberfläche vor den Anwendern zu verbergen. Z.B. durch die systemübergreifende Verlinkung von Daten und Informationen in einem rollenspezifischen Cockpit oder die Nutzung von Algorithmen der Künstlichen Intelligenz (KI), die dem Anwender immer die Funktionen anzeigen, die er vermutlich als nächstes verwenden möchte. Dazu hat Oleg übrigens einen interessanten Blog-Beitrag über Machine Learning und CAD UX veröffentlicht: Er beschäftigt sich mit dem New adaptive UI in der CAD-Software NX von Siemens PLM Software.

Damit kratzen wir aber nur an der Oberfläche von PLM. Dass die Implementierung von PLM notwendigerweise komplex ist, liegt einfach in der Natur der Produktentstehung, die immer komplexer wird. Wir reden heute über smarte vernetzte Produkte und cyberphysischen Systeme, an deren Entwicklung eine Vielzahl von Disziplinen innerhalb und außerhalb der Organisation beteiligt ist. Wir reden über neue Werkzeuge und Methoden des modellbasierten Systems Engineering, die in den PLM-gestützten Produktentstehungsprozess integriert werden müssen. Wir reden über autonome Fahrfunktionen, die virtuell abgesichert und digital dokumentiert werden müssen. Und wir reden über einen verlängerten Produktlebenszyklus, der sich bis in die Betriebsphase des Produktes erstreckt und über den Digital Twin nach Möglichkeit wieder mit der Entwicklung verknüpft werden soll. Die Komplexität nimmt also weiter zu, und es wäre illusorisch zu glauben, dass sie sich mit PLM reduzieren ließe; günstigstenfalls lässt sie sich besser beherrschbar machen.

Chart_PLMchallenges

Anders gesagt: PLM ist nicht per se komplex. Selbst die viel gescholtenen monolithischen Systeme lassen sich mit sehr begrenztem Funktionsumfang relativ einfach out oft he box implementieren und sind auch nicht so aufwendig in der Wartung wie oft behauptet wird. Der Aufwand rührt daher, dass PLM in den Unternehmen nie auf der grünen Wiese implementiert wird, selbst wenn das betreffende Unternehmen seine Produktdaten vorher filebasiert verwaltet hat, was immer noch erstaunlich oft anzutreffen ist. PLM trifft immer auf eine bestehende IT-Systemlandschaft, in die es integriert werden muss, und vor allem auf eine gewachsene Prozesslandschaft, die es abbilden muss. Die meisten Unternehmen sind nicht bereit oder willens, diese Landschaft an das PLM-System anzupassen, entweder weil sie glauben, dass ihre Prozesse besser sind als die Best Practise-Vorlagen, die der Systemhersteller vielleicht vorschlägt, oder weil sie ihren Anwendern keine grundlegende Veränderung der Arbeitsweisen zumuten wollen.

Deshalb bin ich nach wie vor skeptisch, was die Zukunft von PLM aus der Cloud anbelangt, zumindest in der Form eine mehrmandantenfähigen SaaS-Lösung mit eingeschränkten Customizing-Möglichkeiten nach dem Vorbild von Salesforce. Im Übrigen ist nicht die Technologie die größte Herausforderung, mit der die Unternehmen bei PLM ringen, wie die Cloud PLM-Marktstudie von CIMdata gezeigt hat, sondern organisatorische Themen wie die funktionsübergreifende Koordination der verschiedenen Disziplinen. Das wird durch die Cloud nicht automatisch einfacher.

Doch zurück zum Thema PLM und Komplexität. Ich glaube, dass in der Diskussion systematisch die Begriffe kompliziert und komplex verwechselt werden. Ein kompliziertes Problem lässt sich durch Wissen lösen. Wenn man weiß, was der Anwender tun möchte, kann man eine komplizierte Bedienerführung sicher vereinfachen. Komplexität hingegen bezieht sich auf die Dynamik und Unberechenbarkeit eines vernetzten Systems, d.h. ein komplexes Problem wird durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt, deren Einfluss aufeinander man nicht genau kennt und der sich verändern kann. D.h. mit anderen Worten, PLM kann zwar kompliziert sein, wird aber wird erst durch die Wechselwirkung mit der Organisation und den Prozessen komplex. Diese Komplexität lässt sich nur bis zu einem gewissen Maße vereinfachen, denn wie sagte der amerikanische Journalist und Schriftsteller Henry Louis Mencken so schön: For every complex problem there is an answer that ist clear, simple and wrong.

In einem Blog über Organisationsanalyse, Business-Analyse und Digitale Transformation habe ich eine interessante Empfehlung zum Umgang mit Komplexität gefunden: Komplexe Probleme kann man von einem gewissen Punkt an gar nicht mehr auflösen, gar nicht mehr darstellen und somit auch gar nicht mehr verstehen. Auch das gilt es zu akzeptieren, ganz so, wie die Komplexität selbst. Entsprechend muss die Lösung, muss der gewählte Umgang mit dem Problem über Variablen und Optionen verfügen, und er muss iterativ sein. Ausprobieren, korrigieren, ausprobieren, korrigieren, … So lernt man den Umgang mit Komplexität. Wie im Leben auch.

Insbesondere in der Automobilindustrie scheinen viele Unternehmen das zu beherzigen, indem sie bei der Implementierung neuer IT-Lösungen für die digitale Transformation einen agilen Weg einschlagen. Dem müssen aber auch die PLM-Hersteller Rechnung tragen und neue Funktionen agiler bereitstellen als sie dies in der Vergangenheit getan haben.

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