Michael Wendenburg Online Redaktion

Independance Day in Katalonien: Aufgeschoben, aber…

Politische Beiträge sind auf einem PLM-Blog eigentlich fehl am Platze, es sei denn, sie würden sich mit der unbefriedigenden Digitalisierungspolitik unserer Bundesregierung beschäftigen. Aus aktuellem Anlass möchte ich jedoch heute eine Ausnahme machen und zu den Unabhängigkeitsbestrebungen der katalanischen Regionalregierung in meiner spanischen Wahlheimat Stellung nehmen, die so gut wie alle juristischen Experten – mit Ausnahme der Separatisten selbst – als Versuch eines Staatsstreichs bezeichnen. Und der, wie die Massendemonstration in Barcelona für den Verbleib Kataloniens bei Spanien am vergangenen Sonntag deutlich gemacht hat, die katalanische Bevölkerung spaltet.

Bruch_Spanien

Zunächst ein paar Fakten, die vielleicht in den deutschen Medien dank der Einäugigkeit mancher Journalistenkollegen nicht ausreichend gewürdigt wurden:

• Weder das Referendum über den Austritt am 1. Oktober, das zu dem massiven Polizeieinsatz mit Hunderten von Verletzten geführt hat, noch eine einseitige Austrittserklärung sind durch die spanische Verfassung gedeckt. Es ist auch nicht die Regierung in Madrid, die das Referendum verboten hat, sondern das spanische Verfassungsgericht, so wie das deutsche Verfassungsgericht ganz massiv einschreiten würde, wenn irgendeine Bayernpartei ein Referendum zur Abspaltung Bayerns veranstalten würde.

• Das Regierungsbündnis von Junts Pel Si und CUP, das mit allen Mitteln die Abspaltung Katalonien betreibt, hat NICHT die Mehrheit der Katalanen hinter sich. Sie eroberten bei der letzten Regionalwahl mit knapp 48 % der Stimmen lediglich die Mehrheit der Sitze im katalanischen Regionalparlament und haben diese Mehrheit genutzt, um Anfang September das Referendumsgesetz und eine Art Übergangsverfassung unter Missachtung des Autonomiestatuts, d.h. der eigenen Länderverfassung und jeglicher demokratischer Spielregeln durch das Regionalparlament zu peitschen. Gesetze, die umgehend vom Verfassungsgericht kassiert wurden.

• Selbst wenn man das Referendum als Ausdruck des „Volkswillens“ befürwortet, erfüllte es in der Form, in der es in Katalonien vorbereitet und durchgeführt wurde, nicht die minimalsten Anforderungen an einen „Volksentscheid“ dieser Tragweite. Es gab weder einen klaren Zensus, noch irgendein Quorum, das die Rechte der Minderheit, die eigentlich die schweigende Mehrheit ist, schützt. An dem Referendum nahmen angeblich etwa 43 % der Wahlberechtigten teil, von denen ca. 90 % für die Unabhängigkeit stimmten; viele gaben ihre Stimme mehrfach ab. D.h. die katalanische Regierung von Ministerpräsident Puigdemont hätte keine ausreichende demokratische Legitimation für eine Austrittserklärung, selbst wenn das Referendum legal gewesen wäre.

• Die katalanische Regierung hat die Öffentlichkeit jahrelang gezielt desinformiert, sowohl was die Gründe für die Abspaltung anbelangt, als auch über ihre wirtschaftlichen Folgen. „España nos roba“ – Spanien raubt uns aus, lautet das Mantra, das gebetsmühleartig wiederholt wurde. Dass Katalonien als eine der reichsten Regionen Spaniens mehr in die spanischen Kassen einzahlt, als es herausbekommt, ist jedoch nicht „Raub“, sondern ein Prinzip der Solidarität, das dem Länderfinanzausgleich in Deutschland ebenso zugrunde liegt wie den Europäischen Regionalfonds, aus denen auch Katalonien sich in den letzten Jahren reichlich bedient hat.

• Dass ein Austritt gravierende wirtschaftliche Folgen für Katalonien hätte, beweist die Entscheidung der beiden katalanischen Banken Sabadell und Caixa sowie zahlreicher anderer großer Unternehmen, die aufgrund der unsicheren politischen und juristischen Lage ihren Firmensitz in den letzten Tagen in andere spanische Regionen verlegt haben. Sie befürchten zurecht, dass ein selbständiges Katalonien sich aus der Europäischen Union und dem Euro herauskatapultiert, mit katastrophalen Folgen für die katalanische und die restliche spanische Wirtschaft, die eng miteinander verflochten sind.

• Die spanische Zentralregierung ist zu Recht für den harten Polizeieinsatz am Tag des Referendums kritisiert worden. Die ungeschickte Vorgehensweise wurde jedoch nicht durch die Zentralregierung, sondern durch den Obersten Gerichtshof Kataloniens angeordnet. Vor allem aber war das späte Einschreiten von Guardia Civil und Policía Nacional letztlich eine Konsequenz der Passivität der Regionalpolizei Mossos d’Esquadra, die einer Befehlsverweigerung gleichkam, weshalb ihr Befehlshaber inzwischen wegen „Rebellion“ angeklagt ist.

• Die Aufrufe zum „Dialog“, die in den letzten Tagen von vielen Politikern in Katalonien, Spanien und auch in Europa zu hören waren, sind verständlich, aber irreführend. Dialog worüber? Die katalanische Regierung will nach dem Vorbild Großbritanniens eigentlich nur über die Konditionen eines Austritts verhandeln, der ein Staatsstreich in aller Regel wäre. Und mit Putschisten verhandelt man nicht, wie Alfonso Guerra, der Spanische Sozialist und ehemalige Vizepräsident der Regierung von Felipe González, vor einigen Tagen im Interview treffend sagte.

Soweit einige Fakten zur Lage in Spanien. Der katalanische Ministerpräsident hat heute die Ergebnisse des Referendums als Mandat zur Gründung einer unabhängigen Republik Katalonien präsentiert, um das Mandat sofort wieder außer Kraft zu setzen. Bleibt abzuwarten wie die spanische Regierung reagiert, ob sie – wie vielfach gefordert – den Artikel 155 der Verfassung aktiviert, um die katalanische Autonomie teilweise außer Kraft zu setzen und Neuwahlen in Katalonien auszurufen. Es bleibt also spannend.

Ich persönlich bin ein glühender Verfechter des föderalen Gedankens. Das ist aber hier gar nicht das Thema, denn Katalonien hat heute schon mehr Autonomie als jedes deutsche Bundesland. Die katalanischen Separatisten suchen auch nicht die die Gleichstellung mit anderen Autonomen Regionen, sondern eine Sonderstellung, und schon gar keine Dezentralisierung der autonomen Machtfülle im Sinne des föderalen Subsidiaritätsprinzips.

Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung speist sich aus einer gefährlichen Mischung aus historischen Ressentiments, rassistischem Überheblichkeitsgefühl und präfaschistoidem Nationalismus (das sage nicht ich, sondern Alfonso Guerra), die mir zutiefst suspekt ist. Wenn sie Erfolg hätte, würde sie die Errungenschaften der europäischen Einigung der letzten Jahrzehnte ernsthaft gefährden. Deshalb von meiner Seite ein klares „NO a la independencia de Cataluña.”

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