Michael Wendenburg Online Redaktion

3DEXPERIENCE Forum 2018: Weichenstellung für eine neue industrielle Epoche

Das 3DEXPERIENCE Forum von Dassault Systèmes fand in diesem Jahr an einem Ort statt, der die industrielle Transformation treffend charakterisiert: Die Lokhalle in Göttingen, ein 1917 erbautes Denkmal der Industriekultur, in der früher Dampflokomotiven gewartet wurden, und die heute als Event Location für Großveranstaltungen dient. Innovationen in einer neuen industriellen Epoche lautete das Motto der diesjährigen Veranstaltung, mit der Dassault die Notwendigkeit unterstrich, die digitale Transformation zu nutzen, um die Weichen rechtzeitig in Richtung einer industriellen Renaissance zu stellen.

Lokhalle

Die Botschaft von Dassault Systèmes war nicht ganz neu – sie wird auf den einschlägigen Messen und User Meetings seit Jahren gepredigt: Die Unternehmen müssen ihre bestehenden Geschäftsmodelle einreißen und auf Basis digitaler Business-Plattformen neue errichten. Disruption ist notwendig und führt zu einer neuen industriellen Epoche, betonte Klaus Löckel, der für Zentraleuropa zuständige Managing Director zum Auftakt der Veranstaltung. Digitale Geschäftsmodelle würden die Wertschöpfung revolutionieren. Ihre Basis seien Digital Twins, mit denen sich die Zukunft antizipieren lasse; digitale Plattformen würden dafür den notwendigen Kontext bildeten.

Digitale Geschäftsmodelle und Plattformökonomie
Offensichtlich ist diese Botschaft inzwischen bei den Unternehmensleitungen angekommen. Löckel präsentierte in Göttingen die Ergebnisse einer jüngsten IDC-Studie, der zufolge 39% der befragten Entscheider glauben, dass ihre heutigen Geschäftsmodelle in fünf Jahren nicht mehr tragfähig sein werden; 70% halten digitale Geschäftsmodelle für erfolgsentscheidend und 63% gehen davon aus, dass ihr künftiger Erfolg von datenbasierten Services abhängen wird. Produkte werden immer mehr zu Containern für Software, die sich verändern lässt und ihrerseits das Kundenverhalten beeinflusst, wie Löckel sagte.

In drei bis fünf Jahren kauft kein Mensch mehr Maschinen, die keinen Digitale Twin haben und keine Daten austauschen können, behauptet kein Geringerer als Karl-Heinz Streibich. Der frühere Vorstandsvorsitzende der Software AG und Präsident von ACATECH, dem Sprachrohr der Technikwissenschaften, erläuterte in seiner Keynote die Herausforderungen der Plattformökonomie in der digitalen Welt. Sie sei eine shared economy, in der kein Unternehmen alleine gewinnen könne und die deshalb gegenseitiges Vertrauen erfordere. Unter anderem zeichne sie sich dadurch aus, dass digitale Plattformen exponentiell wachsen und zu globalen Betriebssystemen für ganze Branchen mit null Grenzkosten werden.

Löckel

Plattformen würden einen Keil zwischen Anbieter und Kunden treiben, aber sie bräuchten trotzdem die reale Welt, führte Streibich weiter aus. Die Breite und Tiefe der industriellen Wertschöpfung in Deutschland lasse sich nicht einfach digital kopieren; einfacher sei es für deutschen Unternehmen, die digitale Welt nachzubauen, sagte Streibich mit Hinweis auf ADAMOS, eine strategische Allianz führender Maschinen- und Anlagenbauer unter Beteiligung der Software AG, die den Partnern unter anderem eine IIoT-Plattform zur Verfügung stellt. Die Chancen in Deutschland sind enorm, weil wir die haptische Welt beherrschen.

Megatrends der industriellen Transformation
Die globale Perspektive der industriellen Transformation erläuterte Olivier Ribet, Executive Vice President der Region EMEAR bei Dassault Systèmes den Teilnehmern am nächsten Morgen. Ribet nannte fünf Megatrends, denen das Unternehmen bei der Entwicklung der 3DEXPERIENCE-Plattform und Firmenübernahmen Rechnung trage: Erstens würden immer mehr Kunden erkennen, dass nicht mehr um das Produkt gehe, sondern um das Produkt im Kontext der Kundenerfahrung; zweitens würden sie die Silos zwischen den Domänen aufbrechen und sich mehr auf Innovationen und schnelle Informationsflüsse konzentrieren; drittens würde mit Blick auf Profitabilität und Nachhaltigkeit die modellbasierte Simulation von Produkten und Prozessen an Bedeutung gewinnen; viertens wollten die Unternehmen ihre Zulieferketten elastischer zu Wertschöpfungs-Netzwerken weiter entwickeln und fünftens müssten sie im Kontext dieser Netzwerke die richtige Balance zwischen offener Innovation und dem Schutz ihres geistigen Eigentums finden.

Ribet

Die Antwort von Dassault Systèmes auf diese Megatrends lässt sich in drei Cs zusammenfassen: Connected bedeutet, dass nicht nur die Produkte, sondern auch die Menschen, Prozesse und Unternehmen immer stärker vernetzt werden. Contextual, dass sich die Produkte an den Kunden und seine Bedürfnisse anpassen und intuitiv zu bedienen sein müssen. Und Continuous beschreibt den Trend zur Einbettung von immer mehr Software, die über die Cloud kontinuierlich aktualisiert und mit anderen Inhalten assoziiert werden kann. Letztlich gehe es darum, den Abstand zwischen virtueller und realer Welt zu reduzieren, sagte Ribet.

Dassault Systèmes wachse derzeit zweistellig und sei inzwischen ein globales Unternehmen mit europäischer Identität, das 43% seiner Umsätze in Europa, Asien ca. 25% und den Rest in Amerika erwirtschafte, sagte Ribet im Interview. Wie viel davon inzwischen auf das Software-as-a-Service-Geschäft mit Anwendungen aus der Cloud entfällt, wollte er aber nicht verraten. Wir haben inzwischen verschiedene Produkte, die die Kunden mit einem Token nutzen und nur für die Nutzung zahlen, speziell im Bereich der Simulation. Wir sehen auch, dass innovative Unternehmen und Startups unsere Software meist subskriptionsbasiert nutzen. Und wir sehen eine Vielzahl von Fertigungsunternehmen, die ihre Fertigungskapazitäten nach Europa zurückverlagern und darüber nachdenken, in die Cloud zu gehen. Wir haben ein neues, flexibles Lizenzmodell entwickelt und erwarten dadurch wachsende Einnahmen, weil viele Unternehmen bestimmte Anwendungen aus der Cloud nutzen werden, die sie wahrscheinlich nicht on premise installiert hätten.

Einer der ersten großen Kunden in Deutschland, der bewusst auf die Cloud-Lösung von Dassault Systèmes setzt, ist die Kärcher-Gruppe. Matthias Steinmann, Senior Director Central R&D Services bei dem Weltmarktführer für Reinigungstechnik erläuterte den Teilnehmern die Digitalisierungsstrategie des Unternehmens. Der Schritt zu vernetzten Produkten wie z.B. einem App-gesteuerten Luftreiniger erfordere andere Ansätze in der Entwicklung und den Aufbau von Plattformen. Kärcher verspricht sich von der Cloud-Nutzung mehr Flexibilität bei der Zusammenarbeit in global verteilten Entwicklungsnetzen und eine bessere Beherrschung der Komplexität. Allerdings steht das Unternehmen noch ganz am Anfang auf der Reise in die Cloud und muss noch einige Hürden nehmen, gerade was die Integration der Cloud-Lösung mit anderen Unternehmensanwendungen wie ERP anbelangt.

Industrielle Renaissance und Nachhaltigkeit
Nach Überzeugung von Dassault Systèmes wird die industrielle Transformation zu einem nachhaltigeren Wirtschaften beitragen. Wie notwendig das ist, unterstrich Leif Pedersen, CEO von BIOVIA, der Dassault Systèmes-Marke für das Management wissenschaftlicher Informationen. Derzeit verbrauche der Mensch in den westlichen Ländern das 2,8-Fache an Ressourcen, die die Erde für jeden Menschen bereithalte. Und es werden immer mehr: Bis 2050 soll die Weltbevölkerung auf zehn Milliarden Menschen ansteigen. Wir müssen deshalb die Art, wie wir Produkte erzeugen, überdenken und zu einer zirkularen Wiederverwendung der Ressourcen kommen, sagte Pedersen, und machte das am Beispiel einer Maispflanze deutlich. Sie wird heute weggeworfen, obwohl sie zu 70% aus Zucker besteht, der sich mit Hilfe synthetischer Enzyme in Biotreibstoff verwandeln ließe. Der Elefant macht vor wie das geht.

Im Fokus der industriellen Renaissance stehe der Mensch, dessen Lebensbedingungen in der digitalen Ökonomie verbessert würden, hatte Löckel eingangs gesagt. Ich frage mich, ob jene 50 % der Menschheit in Europa, deren Jobs Prognosen zufolge bis 2050 durch Künstliche Intelligenz, schlaue Roboter, autonom fahrende Autos und andere Errungenschaften der Digitalisierung verloren gehen sollen, das auch so sehen werden. Über die gesellschaftlichen Auswirkungen von digitaler Transformation und Plattform-Ökonomie wird noch zu wenig diskutiert, auch wenn das 3DEXPERIENCE Forum dafür sicher nicht die richtige Plattform ist.

Veranstaltungsraum

Vielleicht kommt ja alles auch ganz anders, als man denkt, eben weil der Mensch im Unterschied zum Computer denken kann und die Zukunft offen ist. Physiker Vince Ebert, bekannt als Fernsehmoderator und komödiantischer Querdenker, zeigte in seiner humorvollen Keynote über Big Dadismus – Gehört die Zukunft der Künstlichen Intelligenz? die Grenzen des Computers auf. Mit Hilfe von Big Data Analytics könne man nur Korrelationen, aber keine kausalen Zusammenhänge erkennen. Computer würden nie die menschliche Intelligenz und Kreativität ersetzen, denn sie wissen nicht was sie tun und hätten auch keinen Humor. Kreativität aber erfordere einen gewissen Schlendrian und gehe immer zu Lasten der Effizienz. Die Zukunft lässt sich nicht durch Algorithmen vorherbestimmen, postulierte Ebert: Freiheit, Fortschritt und Innovation gibt es nur um den Preis der Unvorhersehbarkeit.

Unbestreitbar benötigt der Mensch im digitalen Zeitalter neue Qualifikationen, ohne dabei bewährte wie die Sozialkompetenz zu vernachlässigen. Was den Studenten in der Lernfabrik der Zukunft beigebracht wird, erläuterten Prof. Vera Hummel und Beate Brenner, Beschaffungs-, Produktions- und Transportlogistik, Industrial Engineering an der ESB Business School Reutlingen den Teilnehmern. Die Lernfabrik kombiniert reale und virtuelle Fabrikumgebung auf Basis der 3DEXPERIENCE-Plattform, die in der Cloud läuft. Sie wird von der Fondation Dassault Systèmes mit einem „erklecklichen Geldbetrag“ gefördert, wie CFO Christian Speth betonte.

Kundenvorträge in den Breakout-Sessions
Mit etwa 360 Teilnehmern war das diesjährige 3DEXPERIENCE Forum ähnlich gut besucht wie die Vorjahresveranstaltung in Leipzig – allerdings nicht ganz so gut, wie die Veranstalter sich das gewünscht hätten. Wir setzen aber lieber auf Klasse als auf Masse, sagte Löckel. Auch das Layout der Veranstaltung ähnelte der des Vorjahrs: Ein runder mit Vorhängen vom Ausstellungs- und Bewirtungsbereich abgetrennter Vortragssaal mit einer runden Bühne in der Mitte für die Keynotes, um den sich die Stühle gruppierten, und vier Leinwänden am Rand des Runds für die Breakout-Sessions. Um den parallel laufenden Vorträgen folgen zu können, brauchten die Besucher nur den Stuhl in die gewünschte Richtung zu drehen, den Kopfhörer aufzusetzen und am Empfänger den entsprechenden Kanal einzustellen.

In den Breakout-Sessions referierten Kunden aus unterschiedlichen Branchen über ihre praktischen Erfahrungen mit der 3DEXPERIENCE-Plattform und den Software-Werkzeugen von Dassault Systèmes, darunter einige Startups, aber auch zahlreiche Vertreter führender Automobilhersteller und -zulieferer wie Audi, Bosch Automotive, Ford und Opel. Einen guten Überblick über die thematische Vielfalt bieten der Live-Blogs der beiden Veranstaltungstage, für die sich mein Blogger-Kollege Ralf Steck die Finger wund schrieb.

Spannend fand ich den Vortrag von Dr. Jörg Hilmann über die CAE-getriebe Konzeptentwicklung bei Ford. Die Ingenieure stehen in der frühen Konzeptphase, in der noch alles im Fluss ist, vor der Herausforderung, schnell „glaubwürdige“ Karosseriekonzepte vorzulegen, die den aktuellen Entwicklungsstand widerspiegeln. Die klassischen CAD- und CAE-Anwendungen aus der Serien seien dafür zu langsam, sagte Hilmann. Ford nutzt für die schnelle Erzeugung und Simulation von Konzeptmodellen deshalb die Software der Berliner Firma SFE, die 2013 von Dassault Systèms übernommen wurde, allerdings noch standalone, d.h. nicht integriert in die 3DEXPERIENCE-Plattform.

Der chinesische Süden dreht auf
Interessante Einblicke vermittelte auch die moderierte Paneldiskussion über die Kooperationsmöglichkeiten und geschäftlichen Perspektiven, die sich mittelständischen Unternehmen in China bieten. Insbesondere die Region Foshan in der südchinesischen Provinz Guandong bemüht sich in Kooperation mit der Deutschen Messe AG seit einigen Jahren intensiv um den deutschen Mittelstand, wie Quiang Rong, Repräsentant der Region sagte. Der chinesische Markt ist riesig, aber die Liberalisierung kommt erst langsam voran, wie Dr. Cora Jungbluth von der Bertelsmann Stiftung sagte; allerdings solle der Joint Venture-Zwang in der Automobilindustrie bald fallen. PLM-Experte Ulrich Sendler, der in den letzten Jahren mehrfach in China war, wies in diesem Zusammenhang auf einen interessanten Unterschied zwischen Süd- und Nordchina hin: Im Süden befänden sich 95% der Unternehmen in privater Hand, während es im Norden praktisch umgekehrt sei. Sendler empfahl, Copyright-Verletzungen durch chinesische Unternehmen nicht zu überbewerten. Wichtiger sei es, die Dynamik der chinesischen Wirtschaft zu verstehen, die sich ebenfalls in Richtung Plattformökonomie bewegt.

Mit neuen Geschäftsmodellen in die Zukunft lautete der vielversprechende Titel der abschließenden Paneldiskussion mit Lynn Thorenz, IDC Deutschland, Klaus Löckel und Frank Liptow von Homag, die allerdings wenig Neues zu Tage förderte. Im Wesentlichen geht es immer um die Frage, wie Unternehmen ihr Produktportfolio auf Basis digitaler Plattformen um neue Dienstleistungen erweitern können. Die größte Herausforderung bei der digitalen Transformation ist die Veränderung der Firmenkultur, wie Thorenz sagte. Auch das hat man schon mal gehört. Löckel forderte die Unternehmen auf, mutig in neue Technologien investieren und ihre IT Schritt für Schritt zu modernisieren.

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