Michael Wendenburg Online Redaktion

Warum scheitern viele PLM-Migrationen?

Viele Großunternehmen stehen vor einem Dilemma. Eigentlich müssten sie ihre in die Jahre gekommenen PLM-Systeme ablösen, aber der „Schuss“ kann auch nach hinten losgehen, wie die Schieflage des iPLM-Projekts bei Jaguar Land Rover beweist. Verdi Ogewell berichtete darüber vor einigen Wochen auf Engineering.com. Einer jener gut recherchierten Beiträge, die man gerne mal in einer deutschen PLM-Fachzeitschrift lesen würde.

Hochsprung

Für manche Kunden von Dassault Systèmes wird die 3DEXPERIENCE (3DX) allmählich zu einer traumatischen Erfahrung. Wenn man Engineerinc.com Glauben schenken darf und ich glaube das darf man, hat es Jaguar Land Rover (JLR) trotz eines Kostenaufwands von 135 Millionen US-Dollar und mit einer Mannschaft von inzwischen 450 Leuten in sieben Jahren nicht geschafft, die von Ford geerbte PLM-Landschaft mit CATIA V5 als CAD- und Teamcenter als PDM/PLM-System vollständig durch eine integrierte PLM-Plattform auf Basis der Dassault-Technologie (CATIA V6 und ENOVIA V6 bzw. 3DX) abzulösen. Die Schieflage des Migrationsprojekts hat inzwischen die höchsten PLM-Verantwortlichen bei JLR jobtechnischen den Kopf gekostet.

Wenn PLM-Migrationsprojekte dieser Größenordnung scheitern oder in eine Schieflage geraten, gibt es dafür immer eine Vielzahl von Gründen, und meistens ist die PLM-Software am wenigsten Schuld daran. In diesem Fall spielte allerdings eine wichtige Rolle, dass sie zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung zwischen JLR und Dassault noch nicht „fertig“ war, d.h. noch nicht alle Funktionen bot, die JLR benötigte, weshalb beide Seiten eine strategische Partnerschaft eingingen. Das Problem ist, dass Dassault mehrere solcher Partnerschaften hat und sich Software-Entwickler bekanntlich nicht teilen können. Davon abgesehen waren die Franzosen noch nie für fristgerechte Fertigstellung berühmt.

Es sei ein generelles Problem, dass die PLM-Hersteller vieles versprechen, was heute noch nicht im Produkt ist, sondern erst mit dem nächsten oder übernächsten Release kommen soll, meinte Prof. Oliver Riedel, der ehemalige Leiter der Produktions-IT bei Audi, in einem (noch unveröffentlichten) Interview, das ich kürzlich mit ihm führte. Seiner Meinung nach steht und fällt der Erfolg eines Migrationsprojekts aber vor allem mit der Fähigkeit der Organisation, auch Misserfolge zu verdauen, und einem stabilen Projektmanagement. „Migrationen sind machbar, aber man sollte sie extrem realistisch angehen und die Erwartungen nicht zu hoch schrauben“, so Riedel wörtlich.

Diesen Ratschlag hat das Projektteam bei JLR nicht beherzigt, denn es hat sich sehr viel in zu kurzer Zeit vorgenommen. Ursprünglich sollte die 3DX-Plattform im Frühjahr 2014 operativ sein. Deshalb entschied man sich zunächst für einen relativ aggressiven Implementierungsansatz, statt für eine inkrementelle, an den Fahrzeugprogrammen orientierte Implementierung. Offensichtlich gingen die PLM-Verantwortlichen von der irrigen Annahme aus, dass die Ablösung der bestehenden PLM-Umgebung nach der Trennung von Ford ähnlich einfach ablaufen würde wie eine PLM-Einführung auf der grünen Wiese. Die Kollegen in den Fachbereichen benötigten jedoch die Legacy-Daten, um weiter Autos entwickeln und bauen zu können.

Außerdem scheint JLR der Einbindung der Partner und Zulieferer zu wenig Aufmerksamkeit und Ressourcen gewidmet zu haben. Hier hätte das iPLM-Team von Daimler lernen können, die bei der Umstellung von CATIA V5 auf NX große Anstrengungen unternommen haben, die Zulieferer mitzunehmen. Allerdings ging es hier „nur“ um eine CAD-Migration und nicht um die gleichzeitige Migration von CAD- und PLM-Umgebung.

Die gute Nachricht ist, dass JLR trotz der Misserfolge bei der CAD-/PLM-Migration nach wie vor erfolgreich gute Autos baut. Was einmal mehr die Frage nach der Bedeutung von PLM für die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens aufwirft. Aber das ist eine andere Geschichte, mit der ich mich demnächst mal näher auseinandersetzen werde. Tröstlich auch, dass JLR mit seinen Problemen nicht allein ist. Nach Aussagen von Prof. Riedel gibt es kaum Großunternehmen die eine PLM-Migration erfolgreich gemeistert haben.

Bei einer solchen Migration gibt es einfach sehr viele Herausforderungen zu bewältigen. Die größte und vielleicht wichtigste ist, die Anwender zu motivieren und mitzunehmen. Das ist nicht nur ein Schulungsthema, sondern auch eine Frage des Management-Supports, gerade bei inkrementellen Migrationen, die sich über einen längeren Zeitraum hinziehen können. Man muss verhindern, dass Bereiche, die vielleicht etwas länger auf die benötigte Funktionalität warten müssen, Parallelprojekte starten, die dann das Hauptprojekt torpedieren.

Ebenso wichtig ist es, eine klare Strategie zu haben, welche Prozesse wann auf die neuen IT-Lösungen umgestellt werden sollen und welche Daten dafür aus den Altsystemen migriert werden müssen. Hier können externe Berater wie die PLM-Experten von PROSTEP, die schon mehrere PLM-Migrationsprojekte begleitet haben, wertvolle Hilfestellung leisten. Zum Glück macht man PLM-Migrationen ja nicht jeden Tag. Das bedeutet aber auch, dass es in der eigenen Organisation oft an der erforderlichen Erfahrung mangelt, um ein solches Projekt aus eigener Kraft stemmen zu können.

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