Michael Wendenburg Online Redaktion

Siemens PLM Connection: Das Tor zur digitalen Welt

Vor einigen Tagen fand in Berlin die Siemens PLM Connection 2017 statt, das Treffen der europäischen User Community von Siemens PLM. Mit 1.160 Kundenvertretern, Partnern, Mitarbeitern von Siemens PLM und Fachjournalisten aus 32 Ländern verzeichnete die Veranstaltung einen neuen Besucherrekord. Am ersten Tag standen vor allem Zukunftsthemen wie Digital Twin und Additive Manufacturing auf der Agenda, was offensichtlich viele neue Besucher anlockte. 40 Prozent der Teilnehmer nahmen zum ersten Mal an der Veranstaltung teil, wie Marten Romers, Chairman der PLM Europe User Group bei der Begrüßung der Gäste sagte.

Berlin2

Einer Studie von Gartner zufolge nutzen bereits 48 Prozent der Unternehmen den Digital Twin oder planen es in Kürze zu tun, wie Romers weiter ausführte – eine Zahl, die sich nicht ganz mit dem Ergebnis einer spontanen Umfrage unter den Besuchern deckte. Der Großteil der Siemens PLM-Community scheint mit dem digitalen Schöpfungsakt noch nicht soweit zu sein, was aber auch damit zusammenhängen mag, dass es kein einheitliches Verständnis gibt, was genau unter einem Digital Twin zu verstehen ist: Ein vollständiges digitales Abbild eines ausgelieferten Produkts oder Produktionssystems, das sich wie die reale Maschine oder Produktionsanlage verhält.

Tony Hemmelgarn, President und CEO von Siemens PLM, ließ in seiner Keynote zum Thema Digital Twin jedoch keinen Zweifel daran, dass ein holistischer Ansatz der Digitalisierung unabdingbar sei, um auf Dauer im Wettbewerb bestehen zu können. Mittelständische Unternehmen stünden im Brennpunkt dieser digitalen Transformation. Siemens PLM Software habe in den letzten 10 Jahren mehr als 10 Milliarden US-Dollar in die Erweiterung seiner Software-Palette investiert, um seine Kunden bei der Digitalisierung von Ideation (Entwicklung), Realization (Produktion) und Utilization (Betrieb) ihrer Produkte und Produktionssysteme optimal zu unterstützen. Insbesondere Mentor Graphics mit seinen Werkzeugen für die Elektronikentwicklung sei eine Schlüsselkomponente für den Digital Twin.

Der Digital Twin wird künftig eine zentrale Rolle für die Absicherung von Produkten spielen, wie Hemmelgarn am Beispiel der Automobilindustrie veranschaulichte: „Für die höchste Automatisierungsstufe des Autonomen Fahrens sind etwa 15 Milliarden Testmeilen erforderlich. Deshalb muss man vieles künftig virtuell testen.“ Mit Blick auf den wachsenden Simulationsbedarf hat Siemens PLM deshalb vor ein paar Monaten die Simulations-Anbieter Infolytica und TASS International übernommen. TASS ist spezialisiert auf Entwicklung und Test von umweltfreundlichen und sicheren Mobilitätslösungen für die Automobilindustrie.

Hemmelgarn

Chief Technology Officer (CTO) Jim Rusk erläuterte den Anwesenden zusammen mit verschiedenen Kollegen, wie sich die Unternehmensprozesse mit Hilfe der Digital Innovation Platform von Siemens PLM durchgängig digitalisieren lassen. Als Beispiel für die verschiedenen Einsatzmöglichkeiten des Digital Twin in Entwicklung, Produktion und Betrieb diente der leichtgewichtige Passagierjet Eclipse 550, den der amerikanische Flugzeugbauer ONE Aviation entwickelt. Ein beeindruckendes Beispiel mit einem kleinen Schönheitsfehler: Es funktioniert in dieser Durchgängigkeit heute nur auf der „grünen Wiese“, d.h. in einem Unternehmen, das eine weitgehend homogene IT-Landschaft aus der Hand eines Systemanbieters nutzt.

Viel Aufmerksamkeit widmeten die Referenten in diesem Jahr dem Internet of Things (IoT) und der Cloud-basierten IoT-Plattform MindSphere, auf der die Daten smart vernetzter Produkte zusammenlaufen sollen. Siemens PLM ist mit 30 Millionen Automatisierungssystemen, 75 Millionen Messgeräten und über 800.000 vernetzten Produkten im Feld für die Vernetzung der Prozesse in Entwicklung, Produktion und Betrieb sehr gut aufgestellt, wie Hemmelgarn betonte. Im Unterschied zu den meisten IoT-Anbietern sei man nämlich in der Lage, die Produkte nicht nur zu überwachen, sondern bei Störungen auch gleich zu reparieren. Ohne PLM sei dieses Feedback jedoch nicht möglich.

Wichtige Themenschwerpunkte der diesjährigen Veranstaltung waren außerdem Additive Manufacturing bzw. Generative Design als Voraussetzung für die Anwendung additiver Fertigungsverfahren. Die eigentliche Herausforderung, vor der die Unternehmen heute stehen, sei die Integration dieser Verfahren in die Fertigungsprozesse, meinte Hemmelgarn. Das wurde auch im Vortrag von Dr. Martin Hillebrecht deutlich, der bei EDAG Engineering für das Innovationsmanagement verantwortlich ist. Hillebrecht stellte den Anwesenden den Next Generation Space Frame vor, einen Leichtbau-Rahmen aus gebogenen Aluminiumprofilen und 3D-gedruckten Verbindungsknoten, der entsprechend der jeweiligen Fahrzeugkonfiguration ausgelegt werden kann. Additive Manufacturing sei die passende Antwort auf die wachsende Variantenvielfalt im Karosseriebau gerade mit Blick auf neue Herausforderungen wie die Elektrifizierung des Antriebsstrangs, aber immer im Zusammenspiel mit herkömmlichen Fertigungsverfahren.

Platform

Die Auslegung der additiv gefertigten Komponenten ist ein CAE-intensiver Prozess, bei dem das NextGenSpaceframe 2.0-Team von EDAG und den beteiligten Partnern nicht nur NX for Additive Manufacturing und die Simulationswerkzeuge von Siemens PLM einsetzte, sondern auch Berechnungs-Tools von Drittanbietern. Ihre Integration lässt mangels entsprechender Standards und Schnittstellen heute noch zu wünschen übrig, wie Hillebrecht im Gespräch einräumte. „Die Systemanbieter müssen deshalb eine datendurchgängige Prozesskette aufbauen und alle Systeme in einer homogenen Umgebung zusammenführen.“

In den parallel laufenden Vorträgen am Nachmittag des ersten Veranstaltungstages stellte Siemens PLM die neue Version von NX vor, die dank der Integration der Mentor-Tools Capital Harness und Xpedition eine bessere Unterstützung für die interdisziplinäre Entwicklung mechatronischer Systeme bietet. Eine wesentliche Neuerung ist außerdem die Convergent Modeling-Technologie, die es erlaubt, Gitternetze und präzise BREP-Geometrie miteinander zu kombinieren, was die Bearbeitung Topologie-optimierter Bauteile wesentlich erleichtert. Die neue Version von Simcenter 3D, Siemens PLMs multidisziplinäre CAE-Toolsuite, enthält nicht nur Werkzeuge für die Topologie-Optimierung, sondern ermöglicht jetzt auch akustische und strukturelle Dynamiksimulationen.

Die Bereitstellung der Simulationswerkzeuge in einer Cloud-Umgebung war eine der ersten Maßnahmen zur Umsetzung der Cloud-Strategie von Siemens PLM, wie Sandy Coleman den Anwesenden erläuterte. Inzwischen seien alle Anwendungen Cloud-fähig, auch wenn noch nicht alle als SaaS-Modell bereitgestellt werden. Siemens PLM sieht eine wachsende Akzeptanz für die Cloud selbst in streng regulierten Industrien wie Military & Defense oder Medizintechnik und konnte das auch mit beeindruckenden Referenzen untermauern. So setzt z.B. Newport News Shipbuilding bei der Entwicklung der neuen Flugzeugträger der Ford-Klasse eine Cloud-basierte Plattform für das Management gemeinsam genutzter Daten ein. Die Cloud erleichtere aber auch kleineren Unternehmen den kostengünstigen Zugang zur neusten Technologie, meinte Coleman.

Hillebrecht

Die Bedenken vieler Unternehmen, dass ihre Daten in der Cloud nicht sicher seien, scheint sich ins Gegenteil zu verkehren. Aufgrund der zunehmenden Zahl von Hackerangriffen, über die ich neulich in einem Blog-Beitrag berichtete, setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass die eigene IT-Infrastruktur viel gefärdeter ist als die eines professionellen Cloud-Betreibers. Siemens PLM setzt hier auf Amazon als Partner, der inzwischen C5AWS-zertifiziert ist, wie Sandy Coleman sagte. Gleichzeitig machte sie deutlich, dass Cloud nicht automatisch Sicherheit bedeute, sondern ein abgestimmtes Sicherheitskonzept zwischen Service-Providern und Anbietern Cloud-basierter Lösungen erfordere, das z.B. vorbeugende Maßnahmen wie eingebaute Penetration-Test-Funktionen erfordere. Eine Herausforderung, vor der Siemens PLM steht, ist Cloud-basierte Lösungen wie Teamcenter Rapid Start oder die Application Lifecycle Management-Lösung Polarion noch besser konfigurierbar zu machen.

Ob es Siemens PLM mit seinem manchmal etwas nüchternen Auftritt auf der User Conference gelungen ist, aus Kunden wirkliche Fans zu machen, bleibt abzuwarten. Multi-Talent Bruce Dickinson, Rockmusiker (Iron Maiden), Pilot und Unternehmer erläuterte den Anwesenden in seinem Motivationsvortrag den feinen Unterschied: Kunden können davon laufen während Fans zu ihrem Team stehen, auch wenn es mal nicht so gut läuft. Zum Glück läuft es für Siemens PLM zurzeit nicht schlecht: Die Lizenzen verkaufen sich wie „geschnitten Brot“. Mit 3,3 Milliarden Euro Software-Umsatz ist der Siemens-Konzern inzwischen der zehntgrößte Software-Hersteller der Welt.

A propos „geschnitten Brot“. Am Beispiel des Erfinders der Brotschneidemaschine Otto Frederik Rohwedder machte Hemmelgarn in seiner Keynote deutlich, dass eine gute Erfindung nicht ausreicht, um erfolgreich zu sein. Um daraus Nutzen zu ziehen, müsse man die gesamte Wertschöpfungskette betrachten. Rohwedder war mit seiner Erfindung erst erfolgreich, als es ihm gelang eine Maschine zu bauen, die das Brot auch automatisch verpackte. Übertragen auf die heutige Situation heißt das: Die deutschen Maschinenbauer müssen ihre Maschinen nicht nur besser vernetzen, sondern sich auch Gedanken darüber machen, wie sie aus den Daten Nutzen für neue Geschäftsmodelle ziehen können.

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